Hochbegabung und ADHS, die Stärken nutzen und nicht die Schwächen in den Blick nehmen.

Hochbegabung und ADHS

Hochbegabung und ADHS, die Stärken nutzen und nicht die Schwächen in den Blick nehmen. Diese Haltung gibt es schon viele Jahre im Begabungsblick. Seien wir mal ehrlich, ob mit oder Diagnose ADHS:

„Es braucht Lösungen und nicht Problembeschreibungen.”

Martina Rosenboom ist immer auf der Suche nach Lösungen und hat mir erlaubt den folgenden Text mit dir zu teilen. Julie Skolnick hat gute Impulse zu diesem Thema aufgeschrieben und Martina hat ihn übersetzt. 

Umgang mit (Hoch-)Begabung und AD(H)S – eine stärkenorientierte Sicht von der Autorin: Julie F. Skolnick M. A., J.D.
Die Merkmale von AD(H)S und (Hoch)Begabung sind ähnlich und es gibt bei Kindern oft Fälle, in denen sogar beides gleichzeitig festgestellt wird. Leider liegt der Fokus im Umgang mit den Kindern auf den Defiziten. Dabei benötigen alle Kinder eine individuelle Wahrnehmung ihrer Stärken, um selbstbewusst an ihren Herausforderungen arbeiten zu können.

Ein Erfahrungsbericht

Max ist 10 Jahre alt und besucht die 5. Klasse eines Gymnasiums. Er wurde gerade medikamentös eingestellt, weil er unaufmerksam ist und neben der Hochbegabung nachträglich ADS diagnostiziert bekommen hat.

Ein Rückblick in die Grundschule:

❤️ Kopfhörer durften genutzt werden, um die Geräusche auszublenden

❤️ Lernbüros wurden eingesetzt, um in der Gruppe konzentriert bleiben zu können

❤️ Wiederholungen wurden reduziert

❤️ Wettbewerbe, Referate und Sonderaufgaben sorgten für Herausforderung

❤️ Fidget Toys lenkten die Aktivität um

❤️ Wackelstühle und Hocker machten das lange Sitzen erträglich und der Bewegungsdrang wurde befriedigt

Die Lehrerinnen hatten einen sehenden und verstehenden Blick. Bewegung war wichtig für Max und wurde berücksichtigt. Das Wegträumen wurde mit kleinen Erinnerungen nicht zu einem Problem. 

Änderung beim Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium

Das Gymnasium kann „das” nicht leisten. Max benötigt Medikamente, um funktionieren zu können. Sonderaufgaben, Bewegung und andere helfenden Elemente sind nicht erlaubt. Sonderbehandlungen nicht vorgesehen, weil alle Kinder gleich behandelt werden müssen. 

Max landet bei mir im Marburger Konzentrationstraining und ich erlebe einen Jungen, der aktiv und freundlich ist. Er möchte alles richtig machen und lässt sich mit Bestärkung gut lenken. 

Die Schule von Max hat wegen der Diagnose von ADS Folgendes zugelassen:

✅ Ohrstöpsel, um Geräusche auszublenden

✅ Er darf den Raum verlassen, wenn er Abgrenzung benötigt

✅ Erinnerungen und Aufmerksamkeit der Lehrer

✅ Aufgaben werden angepasst (keine Herausforderungen)

Meine Frage

Warum benötigten diese Lehrkräfte für diese wenigen Maßnahmen eine Diagnose?

Aus der Grundschule war bekannt, wie Unterricht für Max gelingt.  

Max hat inzwischen verinnerlicht, dass mit ihm was falsch ist und er nur funktionstüchtig mit Medikamenten ist. Er hat verstanden, dass er seinen Eltern Kummer macht. Aber ehrlicherweise hat er nur eine andere Art zu lernen. 

Frau Skolnick hat ebenfalls viel Erfahrung mit diesen Kindern und Lösungen für dich notiert.

AD(H)S und Hochbegabung werden manchmal mit denselben oder ähnlichen Merkmalen beschrieben. Die eine Diagnose wird jedoch als Behinderung und die andere als Begabung angesehen. Keine der beiden Annahmen ist ideal für die Unterstützung eines Kindes, das entweder mit AD(H)S, Hochbegabung oder beidem diagnostiziert wurde, was oft als doppelt außergewöhnlich oder 2e bezeichnet wird. (2e bezieht sich auf eine Diagnose von Hochbegabung mit einer Lernbehinderung oder einem Lernnachteil als zweite Besonderheit; in diesem Artikel bezieht sich 2e auf AD(H)S als zweite Besonderheit).

Begabte Kinder leiden darunter, wenn unangemessene Erwartungen bestehen, ohne dass andere komplexe Merkmale berücksichtigt werden, die ihren Alltag bestimmen. Kinder, die mit AD(H)S identifiziert werden, werden defizitorientiert beurteilt und ihre Stärken werden weder anerkannt noch gefeiert. Doppelt außergewöhnliche Kinder erleben ein Tauziehen, je nachdem, welche Kombination von Stärken und Herausforderungen sie aufweisen. Die Anerkennung der Stärken und die Unterstützung bei den Herausforderungen aus jeder Diagnose tragen wesentlich dazu bei, dass diese Kinder ihr Selbstwertgefühl steigern und ihr Potenzial ausschöpfen können.

Das Selbstwertgefühl bildet die Grundlage für den Erfolg. Deshalb ist es wichtig, unsere doppelt außergewöhnlichen Kinder besser zu verstehen und zu fördern, deren reichhaltiges und grenzenloses Potenzial oft durch einen gravierenden Mangel an Verständnis für ihre alltäglichen Erfahrungen zunichte gemacht wird. Dieses mangelnde Verständnis wirkt sich negativ auf das Selbstwertgefühl aus, was sich in negativen Reaktionen und Interaktionen mit Erwachsenen – Eltern, Lehrkräften und Fachleuten – niederschlägt, die mit diesen Kindern leben und arbeiten.

Merkmale der Hochbegabung

Die Diagnose “hochbegabt” basiert häufig ausschließlich auf Intelligenz und Leistung. Die Feststellung von Hochbegabung allein anhand dieser Kriterien setzt voraus, dass die entscheidenden Merkmale von Hochbegabung Fähigkeit und Intellekt sind. Begabte Kinder werden oft gefragt: “Wenn du das so gut kannst, warum kannst du dann nicht das?” Hochbegabte Kinder mit AD(H)S zeigen oft eine erhöhte Intensität und Sensibilität, aber sie sind darauf vorbereitet, in einem System zu versagen, das nur intellektuelle Fähigkeiten anerkennt und erwartet, ohne ihre emotionalen Bedürfnisse zu berücksichtigen.

Hochbegabung beinhaltet natürlich auch eine starke intellektuelle Fähigkeit. Sie ist oft auch mit einem ausgeprägten Sinn für Recht und Unrecht, existenziellen Überlegungen und dem Suchen nach Wahrhaftigkeit verbunden. Für begabte Kinder ist es wichtig, dass sie sich durch sinnvolle Beziehungen zu Eltern, Lehrkräften und Fachleuten erfüllt fühlen, die diese anderen Merkmale verstehen, die mit den hohen IQ-Werten einhergehen. Es gibt mindestens drei Stufen der Begabung:

  • Begabt
  • Hochbegabung
  • Höchstbegabung

die alle eine Differenzierung innerhalb derselben Klasse erfordern können. Je höher der IQ-Wert auf der Glockenkurve der Intelligenz ist, desto ausgeprägter sind die Merkmale der

Hochbegabung. Die Erfahrung der Hochbegabung beinhaltet fast immer auch asynchrone Entwicklung, Perfektionismus und Intensität. Interessanterweise werden diese anderen Merkmale bei der Diagnose der Hochbegabung oft nicht berücksichtigt.

Von einer asynchronen Entwicklung spricht man, wenn jemand in einem Bereich eine Stärke und in einem anderen ein relatives Defizit aufweist. Je stärker die Stärke, desto ausgeprägter ist die Asynchronität: wenn einige Bereiche der Leistung leichtfallen und andere nicht, führt dies zu Verwirrung und Frustration sowohl bei dem Kind als auch bei seinem Umfeld. Ein Kind, das mathematische Gleichungen auf hohem Niveau lösen kann, sich dabei aber bewegen muss, kann für diesen Bewegungsdrang bestraft werden. Ein Kind, das mehrere Klassenstufen über seinem Niveau liest, aber keinen zusammenhängenden Aufsatz schreiben kann, wird möglicherweise in eine Förderklasse eingeteilt. Die Folge für das Kind sind Selbstentwertung und Zweifel.

Soziale Herausforderungen können sich ebenso aus der Begabung des Kindes ergeben. Ein Kind, das von Krieg, der Heilung von Krankheiten, Astronomie, Meeresbiologie usw. fasziniert ist, hat oft Schwierigkeiten, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten. Es kann frustriert, ungeduldig oder gelangweilt von “altersgemäßen” Gesprächen und Witzen sein.

Perfektionismus, ein weiteres Merkmal von Hochbegabten, geht oft mit Ängsten einher. Perfektionisten stellen möglicherweise Erwartungen an sich selbst, die fast unmöglich zu erfüllen sind. Hochbegabten Kindern wird oft schon in jungen Jahren gesagt, wie klug sie sind. Diese Art von Lob kann dazu führen, dass Perfektionisten scheitern, weil sie befürchten, andere zu enttäuschen. Ganz gleich, ob sie sich um ihre Klassenkameraden in einem Gruppenprojekt, um die Hoffnung ihrer Eltern oder um das Lob ihrer Lehrer sorgen, Perfektionisten können bis zum Punkt der Lähmung kommen. Sie können einfach nicht sehen, wie sie die Arbeit bewältigen können (die sie sich selbst gegeben haben), um den von ihnen selbst gesetzten Standard zu erfüllen. Ohne angemessene Unterstützung fallen diese Kinder immer weiter zurück und geben schließlich auf.

Ängste treten häufig bei begabten und doppelt außergewöhnlichen Kindern sowie bei Kindern mit AD(H)S auf. Die Kinder werden häufig missverstanden, können ihre Emotionen und Impulse nicht kontrollieren, sind frustriert, weil sie Probleme mit ihrer Selbststeuerung haben, und werden regelmäßig für ihr Verhalten und ihren Bewegungsdrang bestraft. Deshalb haben sie Angst vor der nächsten Repressalie, dem nächsten Versagen, der nächsten unpassenden Bewegung. Die Schaffung einer sicheren Atmosphäre zu Hause und im Klassenzimmer ist unerlässlich, um diese Kinder zu ermutigen, Risiken einzugehen. Zu einer sicheren Atmosphäre gehören das Verstehen von Auslösern, das Durcharbeiten von Problemen und die Erörterung ethischer Dilemmas.

Intensität ist ein weiteres gemeinsames Merkmal. Hochbegabte neigen dazu, emotionale, intellektuelle, phantasievolle, sensorische und psychomotorische Bereiche auf große, besondere und allumfassende Weise zu erleben. So kann ein begabtes Kind mit psychomotorischer Übererregbarkeit (viel Energie und Bewegungsdrang) genauso aussehen wie ein Kind mit AD(H)S, das als hyperaktiv beschrieben wird. Ein Kind mit AD(H)S, das aufgrund von Defiziten bei den exekutiven Funktionen Schwierigkeiten hat, seine Emotionen zu regulieren, sieht einem emotional übererregbaren, begabten Kind sehr ähnlich.

Kinder, die mit AD(H)S identifiziert werden, werden auf Defizite fokussiert und reduziert, wenn ihre Stärken weder anerkannt noch gefeiert werden. Doppelt außergewöhnliche Kinder erleben ein Tauziehen, je nachdem, welche Kombination von Stärken und Herausforderungen sie aufweisen.

Überschneidende Merkmale

Man könnte ein Venn-Diagramm für “AD(H)S” und “Hochbegabung” erstellen, indem man die gemeinsamen Merkmale heranzieht, zu denen:

  • Kreativität
  • Energie
  • divergentes Denken
  • Einfühlungsvermögen
  • Enthusiasmus
  • einzigartige Problemlösungen
  • aber auch Ängstlichkeit
  • soziale Herausforderungen
  • Perfektionismus
  • Intensität
  • Emotionalität

gehören können. Was bedeuten nun diese Ähnlichkeiten und Überschneidungen? Es ist viel wichtiger, die individuellen Erfahrungen mit Hochbegabung und AD(H)S zu verstehen, als anhand von Verhaltensweisen zu beweisen, dass ein Kind entweder hochbegabt oder AD(H)S oder beides ist. (Anmerkung von Claudia Völkening: Lösungen sehen und nicht in Diagnosen denken!)

Wenn man einmal ein doppelt außergewöhnliches Kind kennengelernt hat, dann hat man ein doppelt außergewöhnliches Kind kennengelernt. Wichtig ist, dass man eine persönliche Beziehung zu diesem Kind aufbaut, um zu verstehen, was dem Verhalten zugrunde liegt, um Stärken zu würdigen und um Herausforderungen anzusprechen und zu bearbeiten. Verhalten ist Kommunikation. Erfolg und ein starkes Selbstwertgefühl sind wahrscheinlicher, wenn die wahre Erfahrung von Begabung und AD(H)S von Eltern, Lehrern und Fachleuten verstanden und gewürdigt wird.

Der beste Weg, um sichere Räume für diese Kinder zu schaffen, besteht darin, zu Hause und im Klassenzimmer Systeme einzurichten, die Aktivitäten strukturieren, potenzielle soziale Schwierigkeiten berücksichtigen, mögliche sensorische Herausforderungen eindämmen und so potenzielle Fallstricke vorhersehen. Die Einsicht, dass weniger bevorzugte Verhaltensweisen nicht beabsichtigt sind und sich nicht gegen den Erwachsenen persönlich richten, ist ein notwendiger erster Schritt zum Erfolg. Wenn dieses Verständnis erst einmal da ist, werden die Stärken plötzlich überdeutlich. Diese Kinder zeigen nicht nur hervorragende Fähigkeiten, sondern sie tun dies auch, während sie ihre Herausforderungen wahrnehmen und regulieren. Wenn man die Stärken hervorhebt und diese Kinder bei ihren guten Leistungen erwischt, werden ihre Fehltritte abgefedert. Vor allem aber ist die Erkenntnis, dass diese Kinder unbedingt erfolgreich sein wollen und dazu die Hilfe eines Erwachsenen benötigen, für die Stärkung des Selbstwertgefühls und die Ausschöpfung ihres Potenzials unerlässlich.

Quelle: https://www.withunderstandingcomescalm.com/giftedness-adhd-strengths-based-perspective-approach/ [08.01.2024]

Übersetzung und Bearbeitung: Martina Rosenboom

Herzlichen Dank liebe Martina Rosenboom für diesen wundervollen Text. Er zeigt kurz und knapp, worauf es wirklich ankommt. Im nächsten SENG Elternkreis werden wir den Familien wieder helfen, ihre eigenen Lösungen zu finden. 

Du hast bis hierher gelesen. So könntest du eine verzweifelte Mutter sein, oder eine Lehrkraft, die es besser machen möchte. 

Zum Thema Klassensprung und Differenzierung habe ich Informationen in einem eigenen Artikel gesammelt. Nutze ihn für dich. 

Liebe Lehrerinnen und Lehrer, für dich habe ich ebenfalls ganz viel notiert, was dich unterstützt.  Sei mutig! 

Oder nutzt doch gerne die Sommer Serie Hochbegabung mit dem Thema Lernlust fördern. Dort wird es 24 praktische Ideen geben. 

Hochbegabung und ADHS, die Stärken nutzen und nicht die Schwächen im Fokus.

Eltern mit doppelt außergewöhnlichen Kinder neigen mitunter dazu, genauste Diagnosen zu bekommen. Häufig wird Fachliteratur gelesen, aber die Probleme in der Schule sowie in der Familie bleiben bestehen. 

Für die Eltern ist es sinnvoller, ihre eigenen Lösungen zu entwickeln, um ihre Kinder emotional stabilisieren zu können. Ein gutes Selbstbewusstsein ist die Grundlage für Leistung.

Komm gerne in den SENG Elternkreis. An sechs Abenden arbeiten Eltern mit hochbegabten Kindern gemeinsam an ihren Lösungen und sind in der Regel nach danach viel besser aufgestellt.