Hochbegabtenförderung in der Lehrkräfteausbildung
Hochbegabtenförderung ab der ersten Phase der Lehrkräftebildung?
Das ETSN Netzwerk Hochbegabung hat mit dem ehrenamtlichen Beitrag: „Hochbegabung in der Grundschule – von der Theorie in die Praxis“ wieder einmal einen sehr guten Bogen von der Wissenschaft in die Praxis geliefert. Frau Verena Keimerl der Universität Bamberg hat es geschafft beides in einem Vortrag innerhalb kurzer Zeit zu vereinen. Nehmen wir uns Zeit und steigen tiefer in das Thema ein.
In nachfolgenden Text beziehe ich mich größtenteils auf Frau Keimerls Folien.
Hochbegabung = Hochleistung?
Leider nein. Untersuchungen haben ergeben, was DGhK, viele Berater:innen und andere Fachpersonen im Bereich Hochbegabung beratende Personen lange schon anprangern:
🛑 Fördermaßnahmen sind in der Schule häufig auf Defizite ausgerichtet
🛑 Leistungsschwache Schülerinnen und Schüler sind gut im Blick
🛑 Forderungen von Hochbegabtenforschung und Elternverbänden seit Jahrzehnten thematisiert (und unerhört?)
Die KMK (Kultusministerkonferenz) nimmt das Thema 2009 und 2015 auf und die Entwicklung der letzten Jahre zeigt eine deutliche Verschlechterung:
⚡ Leistungsrückgang im oberen Verteilungsbereichen internationaler Schulleitungsstudien (TIMSS 2019 sowie IGLU 2016)
⚡ Höchste Kompetenzstufe im Mathematischen Bereich – Leistungen gehen zurück von 59% (2007) auf 43% (2019)
⚡Höchste Kompetenzstufe im Lesen der vierten Klassen unterhalb des OECD Durchschnitts (IGLU 2016)
⚡ Ohne(!) Kompetenzstufen mit Leistungen im höchsten Bereich der Naturwissenschaften von 28% (2007) auf 53% (2019) (Kasper et al. 2020)
Mein Resüme: Nachdem der Bildungspolitik die Verschlechterung des Kompetenzniveaus der Schülerinnen und Schülern bewusst wurde, hat sie das Thema aufgenommen und folgendermaßen nach außen vermittelt: „… allen Kindern und Jugendlichen eine ihrem intellektuellen Vermögen und ihrer individuellen Leistungsfähigkeit entsprechend bestmögliche Bildung zu vermitteln)“ (KMK 2009/2015) Der Wille und die Durchsetzungskraft war so groß, dass in den relevanten Bereichen ein weiterer Abstieg der Leistungen deutlich voran schritt.
In den Schulen ist es überwiegend so, dass Förderung einen hohen (und berechtigten!) Stellenwert hat. Leider ist es noch immer so, dass dort allein der Fokus liegt und begabte, hochbegabte sowie höchstbegabte Schülerinnen und Schüler häufig das „Warten“ trainieren müssen. Das trainiert leider nicht ihre Fähigkeiten. Die anderen Kinder trainieren ihre Fähigkeiten mit Aufgaben, die sie auf die nächste Stufe bringen. Auch hochbegabten Kindern sollte dies ermöglicht werden.
Frau Keimerl stellt in ihrem Vortrag heraus, dass alle Schülerinnen und Schüler optimale Förder- und Entfaltungsmöglichkeiten anbieten sollten. Es darf nicht so sein, dass es entweder einen Fokus auf Fördern oder Fordern gibt. Die Gesellschaft profitiert von hoher Begabung und deren Leistungen. Aus der Erfahrung kann ich berichten, dass auch Klassen und Schulen sowie die Mitschüler von hoher Begabung profitieren. Mitschülerinnen und Mitschüler bringen neue Ideen und Aspekte in den Unterricht.
Schulen können etwas tun!
Was kann also die Lösung sein? Wie kann das Potenzial geweckt werden?
Die nachfolgende Aufstellung habe ich der Präsentation von Frau Keimerl entnommen (Preckel & Vock, 2013):
💡 Innere Differenzierung
💡 Akzeleration
💡 Enrichment
💡 Kombi Akzeleration/Enrichment
Wichtig! Ihre Aufzählung habe ich mit Ideen zur Umsetzung ergänzt. So kannst du erste Ideen übernehmen oder weiterentwickeln. Pädagogische Tage bieten sich übrigens an, damit eine Schulentwicklung stattfinden kann und das gesamte Team mit an Bord ist.
💡 Innere Differenzierung
Dies ist der Bereich, den jede Kollegin für sich allein bestimmt. Du brauchst hier nicht auf Kolleginnen warten, den nächsten pädagogischen Tag oder der Zustimmung der Schulleitung.
✅ Aufgaben die Inhalte vorwegnehmen, vertiefen oder in die Breite gehen. Je nachdem was das Ziel und die Bedürfnisse des Kindes/Jugendlichen sind, kann alles richtig sein.
✅ Kleine Gruppen bilden und an einem Thema arbeiten lassen. Ideal, weil es nicht ein einzelnes Kind in den Fokus der Klasse stellt. Außerdem gibt es statistisch gesehen mehr als ein begabtes Kind. (Übrigens nicht nur Jungen!!!)
✅ Projekte mit unterschiedlichen Themen und Schwerpunkten eignen sich wunderbar, um auch fächerübergreifend zu arbeiten. Es können Interessen des Kindes aufgegriffen werden, oder aktueller Stoff ergänzt werden.
✅ Tutor für Mitschülerinnen und Mitschüler sind wichtige soziale Aufgaben, an denen beide wachsen können. Wichtig ist hier zu beachten, dass kein Kind der „Erklärbär“ der Klasse sein möchte und das als alleiniges Instrument persönliches Wachstum behindert.
✅ Hausaufgaben anspruchsvoll gestalten. Da kann es um eigene Projekte gehen, Recherche, Knobelaufgaben, gleiche Aufgaben schwer gestalten lassen… da ist kaum eine Grenze für Kreativität.
✅ Freiheit während des Unterrichts. Dabei ist zu beachten, dass andere Mitschülerinnen und Mitschüler nicht gestört werden und idealerweise andere Kinder eingebunden sind.
Ich vermute, dass du bereits einige Punkte umsetzt. Unter Umständen fehlt dir jedoch der Mut, oder du hast Fragen. Manchmal hilft der Blick von außen, um für sich passende Ideen zu entwickeln.
Zu diesem Thema braucht es in der Regel weitere Personen, damit die Umsetzung gelingen kann. Einerseits eine Schulleitung die den Mut für (neue?) Wege hat und Kolleginnen, die Ideen mittragen. Letztlich sind aber auch Eltern nötig, die Vertrauen aufbringen damit gemeinsam gestaltet werden kann.
✅ Schuleingangsstufen: 1. und 2. Klasse gemeinsam unterrichten, danach auch 3./4. Klasse?
✅ Klassensprung: hier empfiehlt es sich abzustimmen und kooperativ vorzugehen.
✅ Hospitation einzelner Fächer in höheren Klassen. Häufig ist dies ideal, wenn sich Erwachsene noch nicht sicher sind, ob ein Klassensprung sinnvoll ist, oder Begabungen nur in einzelnen Bereichen gelebt werden.
✅ Rechtzeitige (frühe) Einschulung ist häufig von Zweifeln begleitet.
Zu diesem Thema habe ich bereits aus einem früheren Talent Channel des ETSN Netzwerk Hochbegabung eine Zusammenfassung geschrieben. Tauche da gerne ein und sprich mich an, wenn du Fragen hast. Dieser Artikel kann nur eine kleine Einführung sein.
💡 Enrichment
Kindererziehung braucht ein ganzes Dorf, oder noch mehr. Vernetze dich mit vielen Institutionen bzw. legt bei euch Zentral verschiedene gute Partner an, dann muss nicht jeder das Rad neu erfinden. Es geht darum einem Kind außerhalb der Kernfächer mehr Anregungen zu ermöglichen.
✅ Arbeitsgemeinschaften innerhalb der Schule, unterstütz von Partnern.
✅ Auslandsaufenthalte
✅ Ferienkurse
✅ Sommerakademien, Schülerakademien
✅ Fernunterricht, Internetkurse und Privatunterricht
✅ Kommunale kulturelle Ressourcen nutzen (Theater, Bühnen, Planetarien, Museen, …)
✅ Verbände und Vereine bieten interessante Mitgliedschaften: Interessensgemeinschaften, BUND, Nabu, Sport, Tanz…
✅ Hospitation und Mitarbeit in Betrieben, Verlagen, Zeitungen …
✅ Schülerfirmen die fachlich begleitet werden
✅ Wettbewerbe Jugend forscht, Sprachen, …
✅ Stipendien (finanzielle und ideelle Unterstützung)
✅ Aufnahme in Begabtenförderwerke
Wenn du etwas für „deine Schüler“ herausgefunden hast, dann teile die Information mit den anderen Lehrkräften. Oder sprich mit anderen, die vielleicht schon länger regional arbeiten bzw. dort wohnen. Persönliche Netzwerke helfen dir und kürzen Wege ab. Enrichment kann dich entlasten, damit du nicht zu jeder Stunde veränderte Aufgaben reinreichen musst. Lies gerne weiter.
💡 Kombi Akzeleration/Enrichment
Schulen können sich strukturell gut aufstellen und sich mit speziellen Angeboten entlasten.
✅ Spezialklassen für Naturwissenschaften, Musik, Technik… oder aber auch der hochleistenden bzw. hochbegabten Schülerinnen und Schüler. Der Effekt ist vielfach.
✅ Spezialschulen für Hochbegabte. Es wäre wünschenswert, wenn es eine größere Dichte gäbe und Familien ihre Kinder weniger auf Internate geben müssten.
✅ Frühstudium an der örtlichen Universität, oder Fernuni Hagen sowie Rostock ggf. weitere
Auch hier wird klar, es gibt viele Möglichkeiten und die Kreativität kennt wenig Grenzen. Überwiegend haben auch die Eltern gute Ideen und Kontakte. Arbeite mit ihnen zusammen und häufig unterstützen sie gerne. Du musst das „Rad“ nicht neu erfinden.
💡 Mit welchen Maßnahmen können Schulen beginnen?
Wichtig! Behalte in jedem Fall einige wichtige Faktoren im Blick, damit die obige lange Liste nicht sofort zu einer To-Do-Liste wird und maximalen Stress auslöst. Nein, das kann niemand alleine schaffen. Muss auch nicht. Falls du das Team nicht begeistern kannst, dann beginne ganz klein in deiner Klasse bzw. im Fachunterricht.
Nutze aktiv:
✅ persönlichen Spielraum und Interessen (dann hältst du besser durch)
✅ sprich mit den Eltern und lass dich von Ideen inspirieren
✅ nutze dein persönliches Netzwerk
✅ finde regionale Ansprechpartner die gerne aktiv sind
✅ Keep it simple – fange leicht an und sammele Erfahrung!
Neben all diesen fachlichen Skills ist es zusätzlich wichtig, dass du eine gute Beziehung zu deinen Schülerinnen und Schülern hast. Das beste Forderangebot wird nicht helfen, wenn sich das Kind von dir nicht verstanden fühlt. Oder krasser ausgedrückt, tolle Deko allein reicht nicht. Vermeide Perfektionismus. Es sind Kinder, die wie alle anderen auch Bedürfnisse haben:
❤️ Lernen
❤️ Anstrengung
❤️ Erfolg
❤️ Freunde
Mach kein Kind zum Außenseiter. Versuche andere Kinder mit einzubinden und habe auch die Mädchen im Blick. Leider sind Mädchen noch immer Meisterin ihr Talent zu verstecken. Ich teste übrigens etwa 1/3 weniger Mädchen und das ist nicht nur bei mir so. Jungen fallen häufig eher auf. Entweder weil sie sehr gute Leistungen zeigen, oder weil sie massiv stören. (Ja, es gibt immer Ausnahmen…)
🔋 Ist Enrichment wirklich wirkungsvoll?
Gehen wir zurück zum Vortrag von Frau Keimerl. Sie stellt fest, dass es im deutschsprachigen Raum kaum systematische Beschreibungen und Evaluationen gibt.
Enrichmentmaßnahmen die erfolgreich sind haben folgende Gemeinsamkeiten:
🔋 eigenmotivierte Teilnahme
🔋 erhöhtes Anforderungsniveau
🔋 kein Leistungsdruck
(Hany & Heller 1992, Reinders & Wittek 2008)
In folgenden Bereichen zeigen sich positive Effekte:
🔋 Schulleistung
🔋 Fähigkeitsentwicklung
🔋 Persönlichkeit
(Kim 2016, Kulik 2004, Rindermann 2000)
Du siehst also, dass diese Angebote einen sehr hohen Einfluss haben. Es sind alles wichtige Eigenschaften, die für das spätere Leben „nach der Schule“ wichtig sind.
Ändern wir die Lehramtsausbildung
Apropos nach der Schule: Nach der Lehramtsausbildung fühlen sich viele auf die praktische Tätigkeit schlecht vorbereitet. Aus der vielfachen Beratung in den Schulen nehme ich sehr häufig wahr, dass sie sich mehr praktische Ausbildung wünschen und Lehrkräfte ab der Mittelstufe wünschen sich mehr Pädagogik. Fachlich sind sie super, aber fragen sich häufig: „Wie kann ich das jetzt den Kindern erklären, damit sie gerne mitarbeiten?“ Letztlich erhalten sie üblicherweise keine Informationen über die Besonderheiten von begabten und hochbegabten Schülern. Für die Defizite sind Sonderpädagogen in den Schulen, nur für die begabten Kinder fehlt eine Fachperson.
Die Universität Bamberg möchte das ändern. Sie möchten eine Professionalisierung angehender Lehrkräfte in der (Hoch-)Begabtenförderung. Frau Keimel stellt für das Plenum folgende Informationen zusammen:
💥 Referendare ausbilden, damit sie leistungsstarke und potenziell leistungsfähige Grundschulkinder beim Lernen begleiten können. Der gesamtgesellschaftliche Gewinn soll nachhaltig gefördert werden. (KMK 2015, Stern & Neubauer 2016)
💥 Begabungsförderung im Unterricht mit dem Fokus auf die bisher häufig ausbleibende Theorie-Praxis-Verzahnung (Straub & Waschewski 2019)
💥 Insbesondere Grundschullehrkräfte haben eine Diskrepanz zwischen akademischer Qualifikation und unterrichtspraktischen Handlungskompetenzen, um den Unterricht kognitiv aktivierend gestalten zu können. (vgl. Lotz 2015), Pietsch 2019
Die Universität in Bamberg hat ein Theorie-Praxis-Lehrkonzept zur (Hoch-) Begabtenförderung in der Grundschule entwickelt.
Es werden Blockseminare angeboten und Unterrichtsvorbereitungsgespräche mit Fragebögen und Feedback sowie Platz für Reflexion durchgeführt. Folgende Themen werden vermittelt:
✨ Modelle zu Intelligenz und Hochbegabung
✨ Diagnostik und Charakteristika Hochbegabter
✨ Förderung hochbegabter Grundschulkinder durch Differenzierung, Akzeleration und Enrichment
✨ Unterrichtsplanung und Unterrichtsqualität
Die Universität Bamberg hat bereits einen fachdidaktischen Überblick mit Hilfe von konkreten Lerneinheiten vorbereitet. Außerdem wird auch das Thema überfachliche Unterrichtsplanung besprochen.
Kurzevaluation des Seminarkonzepts „Inklusive (Hoch-)Begabtenförderung in der Grundschule“. Beispiele aus dem Unterrichtsbeobachtungen:
❤️ Kognitive Aktivierung (Gesprächsführung) 🚀 „In der heutigen Unterrichtsstunde bezogen wir das Vorwissen der Lernenden ein.“
❤️ Kognitive Aktivierung (Aufgabenstellung) 🚀 „Die gestellten Aufgaben regten die Lernenden dazu an, Sachverhalte und Vermutungen zu erklären.“
❤️ Motivierung 🚀 „In der heutigen Unterrichtsstunde konnten wir die Lernenden mit unserer Begeisterung anstecken.“
❤️ Differenzierung🚀 „In der heutigen Unterrichtsstunde fand Differenzierung nach Lernniveau statt.“
Insgesamt wird deutlich, dass die Lerngruppen heterogen sind und die kognitive Aktivierung der Begabtenförderung auch ein Training der Unterrichtsentwicklung und Differenzierung benötigt. Einerseits muss die Begabtenförderung gestärkt werden und auf der anderen Seite müssen auch die Ressourcen der Grundschulen beachtet werden. Die neu ausgebildeten Grundschullehrkräfte können sehr gute Multiplikatoren sein.
Bist du neugierig geworden? Möchtest du die ersten Schritte gehen? Oder möchtest du dein Team in eine neue Richtung begleiten? Melde dich bei mir und wir reden darüber. Gerne möchte ich in nächster Zeit einige Schulen begleiten mehr Begabungsförderung zu wagen.